Das Theater am WallEine Erinnerung von Christoph Busch

Warendorf, eine Kleinstadt bei Münster. Ein Kino aus den fünfziger Jahren. Und Mary, die Kinobesitzerin. Das Theater am Wall ist ihr Leben. Hier hat sie Hans Albers und Götz George getroffen. Hier haben sie und der Vater die Hautevolee der Stadt empfangen. Das ist lange vorbei.

Mary Meyer-Sparenberg (1923 – 2015)

Mit dieser Frau hatte ich nicht gerechnet. Es war Mitte der achtziger Jahre. ich handelte mit Antiquitäten und hatte gehört, in Warendorf, einer Kleinstadt bei Münster, sollte ein Kino aus den Fünfzigern geschlossen werden. Vielleicht gab es da was für mich zu holen. Die Wandlampen sollten sehr schön sein. Im Rauhputz hatte sich Schmutz festgesetzt. Doch der frei stehende Bau des „Theaters am Wall“ ließ die Pracht der fünfziger Jahre und die investierten Kriegs- und Nachkriegsgewinne noch ahnen. Drinnen das Foyer, groß wie ein Tanzsaal, bereit zum Empfang gut gekleideter Gäste. Schwarzweißfotos längst verstorbener Stars hingen an den Wänden. Schwere Vorhänge, verblaßtes Gold und verstaubte Rohrkolben in einer braunen Bodenvase – ein schlafendes Schloß. Mary, Herrscherin dieses untergehenden Reiches, geleitete mich durch eine Reihe schwerer Flügeltüren in einen Saal mit 549 Plätzen. Die hohe Decke war im dämmrigen Notlicht kaum auszumachen. Zuerst erglühte die Bühnenumrandung in gelbem Licht. Ein breiter Orchestergraben tat sich auf. Dann dämmerte es langsam aus den schweren, messingfarbenen Wandschalen, Lichtsäulen stiegen an der dunklen Wandbespannung empor. Wirklich schöne Lampen. „Können Sie gerne haben, wenn ich mal schließe”, sagte Mary. Munter lief sie voraus und belebte, halb charmantes Kind, halb weißhaarige Kinoregentin, die verschlissene Pracht mit dem Glanz ihrer Erinnerungen. Das schönste für sie, sagt sie, seien die Freitage gewesen, wenn die neuen Filme anliefen. Dann strömte die Kleinstadt-Prominenz ins Kino, die Ärzte und die Kaufleute, alle fein angezogen. Die Plätze waren auf ein Jahr abonniert, war jemand verhindert, blieb der Platz leer. Im Foyer wurden die Honneurs gemacht. Mary im Nerzjäckchen an der Seite ihres befrackten Vaters. Der war Respektsperson, neben Kinobesitzer auch Tanz- und Anstandslehrer. „Die waren doch alle durch seine Schule gegangen. Da hätte keiner die Hand in der Hosentasche gelassen.“

An schlichteren Tagen kamen die Leute mit Bussen von den Dörfern. Endlose Listen mit Vorbestellungen lagen im Kino bereit. Das war ein Gedränge! Manchmal gingen die Kassenkläppchen nicht auf, so viele Hände drückten von außen dagegen. Auch eine Glastür sei mal zu Bruch gegangen erinnert sich Mary, abgerissene Knöpfe lagen hinterher am Boden. Alle möglichen Stühle wurden zusätzlich in die Gänge gestellt.

Das ist lange her. „Eigentlich“ lohnt sich das Kino schon lange nicht mehr. „Eigentlich“ hätte Mary längst dichtmachen müssen. Das wäre vernünftig gewesen. Und warum hat sie es nicht getan? Aus Liebe zum Film, wie Cineasten gerne in den Portraits standhafter Kinofrauen behaupten? „Blödsinn! Die Filme sind doch alle Schrott!“ Mary hat sich schon lange keinen mehr angesehen, nicht mal in ihrem eigenen Kino. Sie hat blind gebucht, was ihr die Verleiher bescherten. Gute Filme waren das bestimmt nicht, das Gute am Film ist der Umsatz. Und der ist im Laufe der Jahre immer geringer geworden. Am liebsten wäre es Mary, die Stadt würde das Kino übernehmen und alles so lassen, wie es ist. Dann könnte sie in der üppigen Fünziger-Jahre-Wohnung des Vaters über dem Kino wohnen bleiben und ab und zu nach dem Rechten sehen – das Phantom des Lichtspieltheaters.

Doch jetzt muss Mary das Kino öffnen: „Didi, der Rächer der Enterbten” wartet. Marys „Jungens“, Lehrlinge und Pennäler, besorgen den Einlass und die Vorführung, dafür dürfen sie sich den Film umsonst ansehen. Jeden Tag ein anderes Team. Mary bittet mich in den Kassenraum, nimmt Platz unter einem Porträt von Gary Cooper und zählt die Karten mit. Bei der fünften jubelt sie: „Wir können spielen.“ Für jeden Kunden hat sie einen munteren Spruch, eifrig gibt sie Auskunft am Telefon – ganz anders als der Vater.  Der sei kein Typ gewesen, der sich an die Kasse gesetzt hätte. „Der hat sich am liebsten das Süßwarengeld gleich hinten in die Gesäßtasche gesteckt. Ein Portemonnaie hatte der nie. Das war so'n richtiger Sonntagsjunge: Der ist am Sonntag geboren und am Sonntag gestorben.” Das war 1968. Seitdem hat Mary die Geschäfte allein geführt. Und die Mutter? Die ist kurz nach dem Vater gestorben. Die war zu fromm für das Geschäft. Mein Vater war da viel flotter.” Schließlich sind 21 Karten verkauft, und Mary bringt die Zigarrenkiste mit den Einnahmen in ihr „Bürochen“. Das ist vollgestellt mit eichenen Büromöbeln noch aus dem Vorkriegskino, ergänzt um ein Röhrenradio und eine schrägbeinige Sitzecke aus den Fünfzigern. An der Wand hängen Photos des Vaters: Als Tanz- und Anstandslehrer hatte er sein erstes festes Kino Mitte der Zwanziger eröffnet. Über den damaligen „Kammerspielen“ richtete er seine Wohnung ein und einen Par- kettsaal für den Tanzunterricht.

Vier Mädchen hat ihm seine Frau geboren. Mary erinnert sich noch an einen heißen Sommer Ende der zwanziger Jahre: Ihr Vater im Frack, Klein-Mary auf dem Arm, stieg aus einem Fenster des Parkettsaals auf das abschüssige Teerdach über dem langgestreckten Kinosaal, klapperte sich mit Kastagnetten selbst den Takt und walzte mit dem Töchterchen in der Sonne hoch über dem schattigen Abgrund des Hofs. Die Mutter schaute voller Entsetzen zu. „Damals hab’ ich gejuchzt”. sagt Mary. „Heute träume ich oft ganz schrecklich, daß ich vom Dach springen muß.” Ein Nachbarsjunge mußte Postmeister sein, wenn Mary und ihre Schwestern Kinderpost spielten, jede von ihnen ein Star, der wichtige Briefe aufzugeben hatte. Mary und ihre Porzellanpuppe traten auf als Renate Müller. Die Schauspielerin ist von den Nazis wegen ihres jüdischen Gatten in den Tod getrieben worden. Die Puppe Renate hat in einer Truhe auf Marys Dachboden überlebt.

Filmgucken war den Kindern selbstverständlich verboten. Doch Mary schlich sich manchmal in die kleine Loge mit den knarzenden Korbstühlen. Ganz still mußte sie sitzen bei der heimlichen Lust. Später, als sie die Filme mit väterlicher Erlaubnis sehen durfte, wurde sie bei Kußszenen aus dem Saal geschickt.

Doch eines durfte Mary von klein auf: mitarbeiten im Familienbetrieb. Posieren in einem Werbefilm für den lokalen Gasthof, Handzettel fürs Kino stempeln, den Einlass regeln, Plätze anweisen, Messing putzen mit Sidolin und Schrubben mit Schmierseife. Das Schlimmste waren die Plumpsklos. Toilettenpapier mußte aus alten Zeitungen zurechtgeschnitten und auf einen Faden gezogen werden. Am nächsten Tag lag dann alles voller Papierschnipsel. Unser Vater verlangte was von uns Kindern. Aber dafür hatte er auch was geboten.“ Schon in jungen Jahren, Ende der zwanziger Jahre, hatte er sich eine Glatze scheren lassen, die er bis zu seinem Tod täglich vom Friseur polieren ließ. Alltäglich trug er Frack und Lackschuhe nach Maß, so tänzelte er durch seine kleine Stadt, Zeremonienmeister und Unterhaltungskönig in einem, Außenseiter und doch der Anstand in Person. Als 1939 der Krieg begann, war er gerade Schützenkönig geworden, eine schöne fremde Frau als Königin an seiner Seite. Seine Ehefrau sah es mit Tränen.

Auch der Krieg konnte Gott Vater nicht vom Sockel holen. Er brannte auf der Damentoilette Schnaps, und je länger der Krieg dauerte, desto voller war das Kino. Mary mußte jetzt härter ran als je zuvor. Jetzt mußte sie auch noch die Arbeit des eingezogenen Vorführers übernehmen, zitterte wegen Pannen. Wehe, wenn die Lichttonbirne kaputtging.

Inzwischen ist der „Didi“-Film zu Ende. Mary muß nach oben in die Wohnung, wo der Ehemann, ein pensionierter Journalist, wartet. Keinen Fuß setzt er in das Kino, im Gegenteil, „der freut sich, wenn ich mich endlich vom Kino trennen will“. Ungeschickt umarmen wir uns zum Abschied. Stoßen dabei mit den Köpfen zusammen. Bei unserem Wiedersehen eine Woche später läuft im Saal ein Schulmädchen-Film. Eine Flasche Wein. „Mädchentraube“ vom Schwarzen Meer, steht im Büro bereit, neben einer alten Geldkassette mit Vaters bakelitnen Kastagnetten und anderen Heiligtümern – und über allem gedämpft die Sexfilm-Musik aus dem Kino. AIs 1945 die Amis einrückten, hatte der Vater schnell Oberwasser. „Ein Neger mit einem halben Pfund Kaffee saß da auf der Treppe vor unserem Kino und radebrechte was von Film.” Der Vater witterte sofort ein Geschäft. Eine Kopie mit Kristina Söderbaum war vor der Befreiung nicht mehr abgeholt worden. „Und dann habe ich dem Neger den Film vorgeführt, ihm ganz allein.“ Der schwarze GI applaudierte der blonden „Reichswasserleiche”, wie später seine Kameraden, die ebenfalls mit Naturalien bezahlten. Auch Mary bekam etwas ab: „Ein Amerikaner, ein bildschöner Kerl“, besuchte sie im Vorführraum. „Der machte mir schöne Augen und auf einmal schnappte er mich und küßte mich.“ Und Mary hat es genossen. „Aber ich hatte auch ein schlechtes Gewissen. Mein Gott, du läßt dich mit einem Amerikaner ein. Als wir jung waren, war an den Grenzen ja die Welt zu Ende.” Bald war die Welt wieder in Ordnung: Die Engländer übernahmen die Kleinstadt und das Kino. Vater machte sich den zuständigen Offizier „Mr. James” schnell zum Freund. Entnazifizierung war kein Problem, der getreue Vorführer kam mager aus der Gefangenschaft zurück und stieg gleich wieder ein ins Geschäft. Zu tun gab es genug. „Die Leute waren ausgehungert. Die guckten jeden Quatsch.“ Wenn Mary morgens den Kinoeingang putzte, tarnte sie sich mit einem Kopftuch. Denn immerzu wurde sie auf Karten angesprochen. Dann redete sie sich raus: „Die Herrschaften schlafen noch.“ Jetzt hatte Vater den Betrieb im Griff – und Mary dazu. Kein Mann war gut genug für die Tochter. Die Schwestern hatten sich längst von zu Hause abgesetzt. Mary blieb. „Ich bin einfach so im Kino hängengeblieben.” Wenn der Vater spätnachts heimkam brachte er die Glastroddeln der Flurlampe mit einem Finger zum Klingen und setzte sich auf Marys Bettkante, bevor er seine Ehefrau aufsuchte. Mary saß an Vaters Seite, wenn er im schicken Wagen zu den Verleihern nach Düsseldorf fuhr. „Die wurden ja alle geschmiert.” Als es schon längst wieder Eier gab, nahm der Vater noch welche mit zu den Verleihern, dazu Schnaps und Schinken. Und Mary. „Wenn so eine junge Frau wie ich dabei war, ging das auch ganz gut bei den Verleihern. Ich mußte nur ein paar charmante Worte sagen.“ Die schönste Belohnung für Marys Treue war der prächtige Ki- noneubau 1950. Ein Namenswettbewerb wurde ausgeschrieben. erster Preis: 100 Mark. Unter den Einsendungen fanden sich Namen wie „Usse Kino“, „Pumpernikkel, „Emstal-Perspektive” und „Teutonia Theater”, dazu Erlesenes wie „WaKuBü — Warendorfer Kunst-Bühne” und „LiKuThe – Licht-Kunst-Theater”. Das Rennen machte „Theater am Wall”, die ideale Verbindung von Anspruch und Bodenständigkeit. Die Einweihung war ein pompöses Fest. Im Foyer hingen Lorbeerkränze, Reden wurden gehalten. Und die Hautevolee staunte: Eine große Garderobe bot eine spezielle Abteilung für Pelzmäntel, als Bestuhlung war das ansprechende, stromlinienförmige Modell „München“ gewählt worden. Hinter der letzten Reihe waren in der Holztäfelung Kopfhörerbuchsen für acht Schwerhörige angebracht. Und hoch oben, neben dem Vorführraum, war eine Privatloge eingebaut, mit separatem Zugang von außen. Presse, Geistlichkeit und Lehrerschaft sollten sich hier ungestört ein filmkünstlerisches Urteil bilden.

Der Bürgermeister bedankte sich beim Hausherrn „für die Schaffung dieses Musentempels“, bevor die „Tonfilmapparatur vor einem hochwohllöblichen Publikum die Probe aufs Exempel“ bestand. Als Vorprogramm entzückte „Der Haushahn“ von Walt Disney. Die Krönung war der „Föhn“ mit Hans Albers: „Ein Mann, ein Berg – ein Film“. Mary durfte weiter die Arbeit machen. Sie dirigierte das Personal in bordeausroten Uniformen mit Goldlitze. „Ich hatte an allen Ecken und Kanten zu fliegen, weil mein Vater als Mann nicht der Typ dafür war.“ Der pickte sich die Rosinen raus, Bewerberinnen fürs Platzanweisen testete er eigenständig: Im dunklen Saal spielte er den Kunden, ließ die Damen mit der Taschenlampe vorausgehen und verdrückte sich seitwärts in die teuren Plätze. „So lernten die, daß man sich immer umdrehen muß. In einem vollbesetzten Kino finden Sie die Leute ja nie wieder.

Gern chauffierte der Vater auch seinen Vorführer im Cabrio über die Dörfer: In jeder Kneipe, in der sein Adlatus ein Filmplakat aufhängte, mußte einer getrunken werden. Und manchmal entdeckte Mary Vaters Cabrio vor Häusern, wo es nicht hingehörte. „Die Frauen mochten ihn eben.“ Die Mutter erfuhr davon nichts. Vaters Extratouren blieben Marys Geheimnis. Schließlich hatte Mary ihm die Galanterien und Küßchen der Filmstars zu verdanken, die zu Premieren den Glanz der Filmwelt in die Kleinstadt brachten. Der letzte Akt jeden Tages war Marys Kassensturz vor Vaters strengen Augen. Und wenn es noch so spät war – er kontrollierte ihre Abrechnung und nahm anschließend das Geld an sich. Am nächsten Tag schüttete er es stolz auf den Tresen der Sparkasse. Noch heute sind Marys liebste Filmbücher die handgeschriebenen Kassenbücher aus den fünfziger Jahren. „Vom Winde verweht“ hatte 1954 in drei Wochen – „das war damals sehr, sehr lange” – 6259 Besucher. „Grün ist die Heide“ sahen in einer Woche sogar 8964 Besucher, der Umsatz betrug 9009,90 Mark, und das zu Zeiten, in denen der billigste Platz 1,20 Mark kostete. Dem kleinen, verhaßten Kon- kurrenzkino, das es inzwischen in der Stadt gab, konnte man ruhig ein paar Filme überlassen, am liebsten die „zum Mitschießen“ und die schlechten, derentwegen es garantiert Ärger mit der katholischen Kirche gegeben hätte. Zum Beispiel „Wenn Frauen hassen“ (orig. „Johnny Guitar“), den der katholische Filmdienst wegen „niedriger Instinkte“ mit „3“ eingestuft hatte und dem damit „in sittlicher und religiöser Hinsicht starke negative Einflüsse auf den Durchschnitt der Besucher“ unterstellt wurden. So einen Film überließ der Vater gerne dem „Rabauken-Kino“, dem von eifrigen Meßdienern prompt die Schaukästen mit Lack zugeschmiert wurden. Eines schönen Nachmittags im Jahr `54 blieb das Kino leer. Der Vater schickte die Tochter aus. An der Kirche sollte was los sein, hatte er gehört. Und wirklich war der Kirchplatz schwarz von Menschen. Der Rundfunkhändler hatte einen kleinen Fernseher auf seine  Fensterbank gestellt, ein Teppich schützte das Gerät vor Sonnenlicht. Die Fußballweltmeisterschaft wurde übertragen. Der Anfang vom Ende. Doch Mary und ihr Vater übersahen zunächst geflissentlich die Vorzeichen des kommenden Unheils. Zumal Sonder- und Werbeveranstaltungen neue Wichtigkeit und zusätzliches Geld brachten: Fred Halley zauberte auf der Bühne, die Sudetendeutschen und der Jagdverband feierten im Kino. Waschmaschinen wurden vorgeführt und mit dem Film „Frauen bestimmen unser Schicksal“ Kochtöpfe angepriesen. Für neue Formen der Gewebereinigung machte „Ungeküßt sollst du nicht schlafen gehen“ Reklame, und den Wärmedecken verhalf Zarah Leanders „Bei dir war es immer so schön“ zu gutem Umsatz.

Für Ablenkung von der Krise sorgte auch die „höhere Kultur“: Wolfgang Sauer und Rudi Schuricke entfachten im Saal Begeisterungsstürme. Die Wiener Sängerknaben in ihren Matrosenanzügen ließen alle Jahre wieder ihre glockenhellen Stimmen in Vaters Kino erklingen. Brigitte Mira fuhr auf einem Fahrrad durchs Foyer, Götz George schlief auf dem Sofa im Büro. Und alle waren des Lobes voll. Mary läßt es mich in ihren dicken Gästebüchern nachlesen. Sogar die Bühnenarbeiter waren begeistert: „so ein sauberes Haus ist uns noch nie vor die Flinte gekommen.“ Irgendwann konnte jedoch auch Mary nicht mehr übersehen, daß billige Sexfilme und geile, ältere Besucher den gepflegten Film und das feine Publikum verdrängt hatten, ohne den Umsatz zu reiten. „Ich behaupte nicht, daß das Kino eine Kulturstätte war, wie man manchmal sagt. Dafür gab es schon immer zu viel Mischware“, sagt sie. Aber für die Sexfilme schäme sie sich immer noch. Nicht weil sie prüde sei, „sondern weil die so minderer Qualität sind”.

Dem Vater blieben die „richtigen Sexfilme“ erspart. Im Alter sah er nicht mehr so gut. zum Schluß hatte er sogar einen Blindenausweis, bei wichtigen Vorstellungen Mitte der sechziger Jahre stand Mary an seiner Seite im Foyer und flüsterte ihm die Namen der Gäste zu, damit er sie begrüßen konnte. Am Tag nach dem Tod der Mutter stand Ruth Maria Kubitscheck in dem Stück „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ auf der Bühne des „Theaters am Wall“. Mary war an diesem Abend „ganz furchtbar traurig. Die Frau Kubitscheck mußte in dem Stück so häßlich zu ihrer Mutter sein. Das war ein schrecklicher Tag.“ Und der schönste Tag in ihrem Leben? Den gibt es nicht. „Alle Tage waren schön. Ich hab‘ mich immer auf alles gefreut.“

Inzwischen hat die Stadt das „Theater am Wall” übernommen – einschließlich der Lampen. Filmvorführungen finden nicht mehr statt. Marys Mann ist gestorben. Mary hat Vaters Wohnung über dem Kino aufgegeben und sich im Herzen der Kleinstadt ein Haus nach ihren Wünschen umbauen lassen.

Veröffentlicht im Kölner Stadtanzeiger 10./11. Januar 1998